Seit Mitte April arbeite ich als Volontärin im Kinderheim „Yo quiero ser“... Ich wollte immer schon einmal Unterstützung in einem Kinderheim leisten. Da ich vor meiner Abreise bereits "Gotta" von Yosseli war, war es für mich klar, wo ich arbeiten möchte. Covid erschwerte auch mir die Anreise nach Honduras. Doch mit 2 Wochen Verspätung begrüssten mich viele Kinder mit einem strahlenden Gesicht.
Das Areal des Kinderheimes ist grosszügig, was in Corona Zeiten sehr hilfreich ist. Denn die Kinder verlassen das Areal seit über einem Jahr nicht mehr (mit wenig Ausnahmen wie dem Ausflug auf den Coca-Cola-Berg). Die Schulen sind geschlossen, die Post funktioniert nicht mehr... eingesperrt hinter einer 2 Meter hohen Mauer und einem Stacheldrahtzaun sind wir hier sicher. Sicher vor der grossen Gewalt, der Korruption, den Misshandlungen und nebenbei auch von Corona.
Da ich kein Spanisch spreche, entscheide ich mich als erstes bei den Kleinsten in der Sala Cuna mitzuhelfen. Ich verliebe mich sofort in die Kleinen und wir spielen viel. In der Sala Cuna sind zurzeit 11 Kinder im Alter von 1 - 7 Jahren und ein Kind ist 16 Jahre. Der älteste Junge und eines der kleinen Mädchen sind körperlich und oder geistig behindert. Die Kinder gehen ab 4 Jahren in den Kindergarten. Hier lernen sie bereits die Zahlen und Buchstaben kennen. Der Kindergarten, die Schule und die Universitäten finden wegen Corona zurzeit nur im Online-Unterricht statt. Das Kinderheim kann sich das Internet und die technisch notwendigen Mittel (Tablet, PC) dazu, nur dank eines grosszügigen Sponsors leisten. Trotz des kulanten Sponsors heisst der Alltag im Heim stetiger Strom- und Wasserausfall. Der Standort des Heimes liegt in einem der ärmsten Viertel der Stadt. Wenn die Stadt zu wenig Strom produzieren kann, wird bei den Armen einfach der Strom abgestellt, damit die Reichen den Strom auf sicher haben. Die Regierung behauptet dann, dass sie gerade etwas reparieren müssen und es deswegen kein Strom gibt. Das stimmt leider normalerweise nicht. Manchmal wird der Ausfall angekündet, doch meistens nicht. Bei 35° oder mehr wird es dann sehr heiss und anstrengend. Es heisst dann immer qué calor (was für eine Hitze). Leider können sich viele Honduraner den Online-Unterricht nicht leisten und gehen momentan nicht in die Schule. Sie werden die Klasse einfach bestehen und sobald sie wieder in die Schule gehen können, werden sie nichts von dem neuen Schuljahr verstehen. Das passt der Regierung ganz gut. So bleibt ihr Volk ungebildet und die Korruption geht weiter.
Alltag
Doch bleiben wir beim Alltag... Alltag in Honduras – ich habe ihn noch nicht gefunden.
Meistens heisst es mañana "morgen dann" und morgen heisst es wieder mañana... und irgendwann steht z.B. ein ganzes Team vor dem Haupteingang und teilt uns mit, wir sind jetzt hier und bauen mit den Kindern die Vogelhäuser.
Geplant wird hier nicht all zu viel. Der Lohn wird alle zwei Wochen ausbezahlt. Das reicht dann um die nächsten 2 Wochen wieder zu Überleben. Und noch ein weiteres Beispiel. Vor über einem Monat hat Patricia, oder Pati oder Mama wie sie hier genannt wird, eine zusätzliche Betreuerin angestellt. Bis heute hat sie ihren ersten Arbeitstag noch nicht angetreten. Wer weiss vielleicht mañana?
Der Alltag im Heim beinhaltet morgens und abends das ganze Gelände zu säubern, 3x täglich heisst es "a Comer" (Essen), Abwaschen, Online-Schule (sofern der Strom nicht ausfällt), die eigenen Kleider von Hand waschen... Um die 39 Kinder zu betreuen und zu versorgen, arbeiten hier 2 Köchinnen, 1 Waschfrau, 1 Putzfrau, 2 Torwächter, 1 Psychologin, 1 Lehrerin, 1 Fahrer und natürlich Patricia. Die meisten arbeiten jeweils 10 Tage am Stück und verlassen am Samstag das Heim, um am Sonntag wieder zurückzukommen. Sie haben im ersten Jahr 10 Tage Ferien und ab 5 Jahren, beim gleichen Arbeitgeber, erreichen sind dann das Maximum von 20 Ferientagen.
Neben den kleinen Kindern, in der Sala Cuna, sind natürlich noch viele weitere Kinder/ Jugendliche hier. Die Älteste absolviert zurzeit ein Praktikum in einem Labor. Alle anderen sind in der Schule oder an der Universität. Ausser mi Amore - Andrecito. Er ist jetzt 2 Monate alt und ich habe mich von Anfang an in ihn verliebt. Leider seine richtige Mama nicht. Sie hat ihn unter einem Mangobaum ausgesetzt. Dieser Gedanke ist für mich immer noch unbegreiflich. Wie verzweifelt muss sie gewesen sein? Viele Kinder, die hier sind, kommen aus einer Vergewaltigung (vom Vater, Grossvater, Onkel, Freund der Schwester etc.), wurden von ihren Eltern zusammengeschlagen, missbraucht, ausgesetzt oder verkauft. UNVORSTELLBARE Gedanken für mich. Wie kann man einem Menschen so etwas antun? Was macht diese „Horror Vergangenheit“ alles mit den Kindern? Ich kann mit ihnen nicht darüber sprechen. Ich bin auch keine Psychologin und kann die Vergangenheit leider nicht rückgängig machen. Man merkt es aber, vor allem den Kindern, die noch nicht lange im Heim sind, an. Sie brauchen viel länger, bis sie mir vertrauen. Was natürlich verständlich ist. Was ich aber machen kann, ist ihnen im Jetzt, unvergesslich schöne Momente schenken. So habe ich meine älteste ahijada (Gottameitli) mit der ahijada meiner Mama ins Kino eingeladen und wir waren zusammen Ohrenringe stechen. Ausserdem habe ich die Ältesten 3 Mädchen - sie sind Erwachsen und dürfen auch für längere Zeit das Heim verlassen - eingeladen, zusammen mit mir Copán zu besuchen. Copán ist die berühmteste Mayastadt in Honduras und liegt 10 Minuten von Guatemala entfernt. Der zweitägige Ausflug war für sie Ferien und auch ein bisschen Schule. Sie lernten ein wenig sich im honduranischen Leben zurecht zu finden.
Die Anzahl der Kinder kann sich jederzeit ändern. In diesem Monat hatte Patricia zwei Anfragen für je ein weiteres Kind erhalten. Sie muss hier ganz schwierige Entscheidungen treffen. In diesen Fällen konnte die Stiftung Unterstützung bieten, indem sie der einen Familie ein Bett inkl. Matratze und der anderen Familie eine Luftmatratze schenkte.
Feliz dia de la madre - Muttertag
Ein ganz spezieller Tag im Heim. Einige Kinder haben ein gutes Verhältnis zu ihrer Mama, andere kennen ihre Mutter nicht, wiederum andere wurden von ihr zusammengeschlagen.
Wir feierten den Tag ganz spontan, jedoch sehr emotional. Ein paar Mütter kamen vorbei und es gab Pizza für alle. Anschliessend haben die Kinder den Müttern vor allen Leuten einen Dank ausgesprochen, was ich sehr mutig fand. Es waren extrem emotionale Momente. Und obwohl ich nichts verstanden habe, musste ich mitweinen. Auch ich habe einen „Mama Dank“ von meiner madrina (Yosseli) erhalten. Denn ihre richtige Mama kennen wir nicht.
Honduras
Da Tata und Tat (Eltern von Patricia) auch im Heim zu Besuch waren und wir unsere Zeit am Esstisch zusammen verbrachten, haben Patricia und ihr Freund uns viel über das Land, die Leute und die Mentalität von Honduras erzählt. Vieles ist dabei für mich immer noch unbegreiflich und unvorstellbar. Ein paar Beispiele aus dem honduranischen Leben.
- Die öffentlichen Spitäler sind für alle gratis. Um einen Nierenstein zu entfernen, muss man aber 2.5 Jahre warten. Können Sie sich das vorstellen? 2.5 Jahre! Für die Operation muss der Patient die Handschuhe und z.B. die CT Bilder selbst mitbringen. Oder brauchst du ein Zusatzbett? Dann hol es dir in der Leichenhalle.
- Parkierst du im Stadtzentrum, wird dein Auto wahrscheinlich abgeschleppt. Denn es gibt keine öffentlichen Parkplätze. Die Mafia schleppt dein Auto ab und du musst ein Lösegeld bezahlen, ansonsten bekommst du das Auto nicht zurück.
- In einem Jahr wurden rund um das Heim 25 Menschen erschossen. Das zeigt, dass hier nicht einmal ein Menschenleben einen Wert hat.
Die Stiftung
Wussten Sie, dass die Stiftung nicht nur ein Kinderheim ist? Nein, sie macht viel mehr. Zurzeit plant die Stiftung 100 Häuser inkl. einem Park und später einer Schule, in der Nähe einer grossen Fabrik, zu bauen. Nachdem man das passende Bauland gefunden hat, ist sie in Absprache mit dem Kanton und dem Landbesitzer. Der Kanton ist bereit das Projekt zu unterstützen und der Landbesitzer ist willig zu verkaufen. Was in Honduras extrem wichtig ist, sind die Kontakte. Ohne Kontakte ist ein solches Projekt unmöglich. Die 100 Häuser werden an Familien vergeben, welche ihr ganzes „Hab und Gut“ wegen den letztjährigen Hurrikans verloren haben. Man kann es sich nicht vorstellen, doch es gibt auch 7 Monate nach den Hurrikans immer noch Familien, welche unter der Brücke leben müssen. Ihr Heim besteht nur aus Holzpfählen mit Plastikwänden verkleidet.
Unvergesslich
Täglich wurde ich hier gewiss 100-mal herzlich und warm umarmt. Was für ein grossartiges Gefühl. Ich bedanke mich für die wunderbaren Begegnungen und die liebevolle Zeit, die ich hier verbringen durfte. Ich werde sie für immer im Herzen tragen.
Ganz herzlich möchte ich mich bei Patricia, für die spontane und herzliche Gastfreundschaft bedanken.
Ich vermisse euch alle bereits jetzt schon ganz fest.
Luana