Mein Start in eine aufregende Zeit hier im Kinderheim war coronabedingt etwas holprig. Umso glücklicher war ich als mich Patricia vom Flughafen abholte. Bei unserer Autofahrt ins Kinderheim nahm ich nur im Ansatz die kleinen bunten Häuser mit abblätternder Farbe, die Wellblechdächer, die Gitter vor den Fenstern, die Mauern mit Stacheldraht und die staubigen Strassen wahr. Dies wurde mir erst im Nachhinein bewusst. Patricia, so wie ich später erfuhr von allen liebevoll Paty genannt, hielt vor einem grossen schwarzen Tor und hupte zweimal. Ein junger Mann öffnete uns mit einem Lächeln. Dies war Miguel. Er bewacht das Tor, schliesst und öffnet es, plaudert mit den Kids. Einer der ersten Mitarbeiter, den ich kennenlernen durfte.
Paty zeigte mir stolz ihr Zuhause für die ca. 40 Mädchen und Jungen. Die Räume und Plätze waren freundlich, einladend, farbig in grün, violett, türkis, gelb ... Sie erklärte mir mit einem Lächeln die örtlichen Besonderheiten und die ersten neugierigen, lächelnden Kinder und Jugendlichen hiessen mich Willkommen. Im Kinderheim gibt es neben den Zimmern für die Mädchen und Jungen, einen Kindergarten – hier heisst es Sala Cuna. Dort leben, lachen, spielen, träumen die kleinen Bewohner und zwei Kinder mit einer Behinderung.
Meine Spanischkenntnisse beschränkten sich auf Gracias und so nutzte ich eine ÜbersetzungsAPP sowie meine Hände und Füsse. Für die Kids war das kein Problem. Sie waren neugierig, suchten den Kontakt und waren interessiert, dass ich verstehe, was sie mir sagen wollten und was ich ihnen antwortete. Darüber war ich sehr dankbar. Eine Nähe entstand rasch und so war es nach einigen Tag auch völlig normal für mich, dass die Kleinen und Grossen mich begrüssten und wir einander umarmten.
Soccer, Football – waren Wörter, die ich rasch verstand und so beobachtete ich zu Beginn die Jungen und auch einige Mädchen, wie sie bei brütender Hitze – auf Spanisch «calor» - das Wort lernte ich rasch, denn die Hitze war überall spürbar – kickten. Da ich früher selbst Fussball gespielt habe und von der Schnelligkeit sowie den Tricks der Kids motiviert wurde, spielte ich einfach mit. Die Freude über ein Tor, der Mannschaftsgeist beeindruckten mich. Einmal mehr erlebte ich, dass die Leidenschaft für Fussball Menschen verbindet und Grenzen, in unserem Sinne die Sprachgrenzen, abbauten.
Paty, von den Kindern und Jugendlichen liebevoll Mamma genannt, kennt ihre «niños», ihre Geschichten und Schicksale. Mit grossem Herzen, viel Verständnis und Wärme heisst sie sie willkommen und begleitet sie. Sie erzählte von Andres, dem jüngsten Bewohner des Kinderheims, von Daniela und Ana. Ich spürte ihre Nähe und ihr grosses Herz. Sie sprach über die Gewalt, die Korruption, den Missbrauch und den Tod, der in Honduras Alltag ist. Man lebt von Tag zu Tag. Trotzdem hat sie ihr Vertrauen in das Gute im Menschen behalten und ihre Geschichte, dass die Engel das Kinderheim beschützen, trug ich durch meine Zeit hier in San Pedro Sula.
Neben dem Kinderheim hat sie mit ihrer Stiftung viele kleine und grosse Hilfsprojekte auf die Beine gestellt. Ich erlebte einen Nachmittag mit, wo eine Gruppe von Jugendlichen, Waschmittel, Seife, Reis, Mais, Mehl und vieles andere aus Spenden in Säcke und Pakete packten. Diese Lebensmittelrationen wurden an die Armen verteilt. Ausserdem beobachtete ich, wie Paty Medikamente zählte und sie in eine Kiste stapelte. Auf meine Frage für wen dies sei, antwortete sie, für ein Kinderheim mit schwerstmehrfachbehinderten Bewohnern, die die teuren Medikamente benötigen.
Fabienne, eine Volontärin aus der Schweiz, die schon mehrmals im Kinderheim half und fliessend Spanisch spricht, und ich planten für die Kinder und Jugendlichen verschiedene Angebote. Paty erzählte uns, dass uns Amerikaner besuchen wollen. Damit die Kinder und Jugendlichen mit den Besuchern aus den USA reden konnten, gestalten wir mehrere Englischkurse. Spielerisch lernten sie auf die Fragen wie «Wie heisst du? Woher kommst du? Was hast du gern?» in Englisch zu antworten. Die Jugendlichen lernten in Rollenspielen kleine Dialoge. Die Jüngeren gestalteten ein ICH Buch, malten sich selbst, das Kinderheim, ihre Lieblingsfarbe und anderes. Sie lernten dabei auf die Fragen zu antworten. Der Besuch der Gringos wurde abgesagt, die Motivation der Kinder war gross und so entstand die Idee eines AmiDays. Wir trafen uns an einem Sonntagmorgen und Fabienne erklärte den Ablauf. Das Ziel dieses Tages war es etwas über Amerika zu erfahren und ein Video zu drehen, welches wir den Gross-Spendern in den USA senden wollten. In kleinen Gruppen lernten die Kinder und Jugendlichen gemeinsam an den Computern etwas über die Freiheitsstatue. Anschliessend trugen sie gemeinsam fünf wichtige Informationen zusammen und schrieben sie auf. Die Gruppen waren konzentriert dabei und die Grossen halfen den Jüngeren. Nach einer kurzen Pause arbeiteten die Jugendlichen mit Fabienne an ihren Dialogen und die Jüngeren bastelten eine Krone für die Freiheitsstatue, die sie zum Tanzen aufsetzten, malten USA Flaggen. Zum Mittagessen gab es typisch amerikanisch «Hot Dogs und Coca Cola». Die Freude war gross. Mit vollen Bäuchen, frisch geduscht und chic gemacht, trafen wir uns auf dem Sportplatz um das Video aufzunehmen. Die Kleinen tanzten mit Fabienne ihren Farmersong «old Mc Donald has a farm…». Die Grossen stellten sich in kurzen Dialogen einander vor und wurden dabei gefilmt. Es war eine gewisse Aufregung spürbar. Nach all dem Trubel gab es am Nachmittag Eiscreme nach amerikanischer Art, mit bunten Streuseln, Sossen und Marshmallows. Alle hatten Freude an der kühlen Überraschung. Am späten Nachmittag schauten alle die Videos und Fotos des Tages auf dem Laptop an. Es war eine zufriedene Müdigkeit spürbar.
Mit dem Beginn der Corona-Pandemie im März 2020 fand auch in Honduras keine Schule im herkömmlichen Sinne mehr statt. Seit nun fast zwei Jahren haben die Schüler und Schülerinnen aus dem Kinderheim digitalen Unterricht. Dieser findet ganz unterschiedlich statt. Die Primarschüler schicken jeden Abend ihre Hausaufgaben an die Lehrpersonen, die älteren Schüler arbeiten via Zoom. Auch sie erledigen ihre Aufgaben und senden sie digital an ihre Schule. Zwei Lehrerinnen, die Psychologin Raquel, Karen und die jungen Frauen unterstützen die Kinder und Jugendlichen bei dieser Arbeit. Diese Zeit des „distance learnings“ hat Spuren hinterlassen. Nur in welchen Bereichen brauchen die Kinder Unterstützung? Mit dieser Frage gingen Fabienne und ich auf die Suche nach dem passenden Testmaterial. Wir griffen auf Einstufungstests aus den Schulen zurück, die jeweils zum Schuljahresanfang gemacht werden. Yesi, die momentan Psychologie online studiert, half mir bei der Testung der drei Jungen aus der 1 und 2. Klasse. Sie übersetzte die Anweisungen ins Spanische und half mir bei den Fragen der Kinder. Beim Einstufen der älteren Schüler und Schülerinnen nutzte ich die Übersetzungs-App. Das war nicht einfach, weil die Kids geduldig sein mussten und die Kommunikation Umwege ging. Aber es hat geklappt. Jetzt wussten wir, wo die Kinder und Jugendlichen schulisch stehen. Die Einstufung hat gezeigt, dass gerade bei den Jüngeren Schwierigkeiten in den Grundlagen bestehen. Aber auch die älteren Schüler und Schülerinnen in Teilbereichen Probleme haben. Mit den Ergebnissen konnten wir nun Ideen und Pläne für die Ferienzeit, die in Honduras vom November bis März ist, zusammenstellen. Ich konnte meine Erfahrungen als Schulische Heilpädagogin in diese Sammlung einbringen. Youtube-Videos in Spanisch und ansprechende Materialien und Spiele für Mathematik, zum Basteln und Gestalten sollen Freude am Lernen und Motivation bringen. Fabienne passte alles in Spanisch an und gemeinsam mit Pati wurde es mit den Lehrerinnen, der Psychologin und Karen besprochen.
An einem Donnerstagmorgen fuhr ich mit Alfredo, dem Fahrer, nach Santa Rosa de Copán. Etwas aufgeregt war ich schon. Sprachbarrieren und eine Tour ins Ungewisse. Wo ging die Reise hin? Alfredo gab sich Mühe und so unterhielten wir uns über Mimik und Gestik. Wir fuhren über Strassen mit riesigen Löchern, es gab Baustellen mit Männern die Schaufeln und Flaschen in der Hand hatten, die bei brütender Hitze mit dem Asphalt die Löcher stopften. Es war wie ein Slalom und Alfredo freute sich, dass ich so erstaunt darüber war. Wir fuhren an Kaffeeplantagen entlang, sahen Bananenbäume, weiter ging es in die Berge. Wir hielten an einer Raststelle und schauten ins Tal. Es war beeindruckend. Nach ca. vier Stunden kamen wir in der Bildungsstätte oberhalb von Santa Rosa an. Wir wurden freundlich von José Luis. begrüsst. Er ist der Direktor und erzählte mir stolz im fliessenden Englisch über die Kaffeepflanzen, die Mango- und die Limonenbäume – den riesigen Garten und die Aussicht ins Tal. Zwei junge Männer schälten die Kaffeebohnen und José Luis forderte mich auf eine Bohne zu probieren. Es war süsslich und schmeckte noch gar nicht wie Kaffee. Wir liefen durch das sehr schöne Gebäude, wo in drei Klassen unterrichtet wurde. Es gab einen Englisch- und einen Computerkurs für Lehrer und Lehrerinnen, einen Kurs für Krankenschwestern. Er zeigte mir die Räume für die Ersthelferkurse, den Malraum und den Raum mit den Nähmaschinen. Mit Freude berichtete er von den Kursen für das Ledernähen, welches als Handwerk zu verschwinden droht. Es war sehr beeindruckend. Aber auch hier hat die Covidpandemie ihre Spuren hinterlassen. Seit März 2020 konnten die Kurse nicht oder nur teilweise angeboten werden. Nun hoffe ich, dass es bald wieder möglich ist und die Angebote für junge Erwachsene wieder durchgeführt werden können.
Da wir nun voll im Englischfieber waren, planten wir, Fabienne und ich, nach dem AmiDay eine Halloween–Party. Unterstützt durch Paty und Karen bereitet wir diesen Tag vor. Wir gestalteten gemeinsam mit den Kindern dekorative Bilder mit Skeletten, Fledermäusen, Kürbissen. Bastelten kleine Lollipop-Geister, schnitzten statt Kürbisse viele Melonen Grusel Köpfe, dekorierten Muffins und vieles mehr. Am Abend wurden die Gesichter geschminkt und dann zum Buffet mit SpinnenPizza, Popcorn, Chips und vielen Süssigkeiten geladen. Die Kinder und Jugendlichen waren eifrig dabei, brachten ihre Ideen und Kreativität ein. Es war ein wirklich schöner Tag und viele lachende Gesichter.
Nach all den Aktivitäten durfte ich gegen Ende meiner Zeit beim Bauen mithelfen. Alfredo, Almilcar, Fabienne, die grossen Jungen und ich brachten Gipsplatten an der Decke in den Räumen und auf der Terrasse hinter Sala Cuna an. Die Konstruktionen waren teilweise herausfordernd. Es wurden aber immer wieder kreative Lösungen gefunden. Gemeinsam hielten wir die Platten an die Decke, bohrten Löcher, massen und schnitten ab. Dabei wurde viel gelacht. Als der erste Raum fertig war, ging es ans Streichen. Auch hier waren die grossen Jungen eifrig dabei. Wir strichen die zwei Wände und die Decke in «azul» – einem schönen Blau. Und so freute ich mich als meine Übersetzungs-App die Decke als Himmel übersetzte. Es hat mich fasziniert wie viel Freude und Ehrgeiz die Jungen für diese Arbeit mitgebracht haben. Die Räume sind schön und einladend geworden.
Zum Pink Ribbon Day am 28. Oktober hiess es Plakate gestalten. Die fünf jungen Frauen befassten sich mit dem Thema Brustkrebs indem sie sich mit pinken und rosa Papier, schönen Bändern, Glitzerfolien und anderen Materialien austobten. Mit viel Engagement bastelten und malten sie. Die Ergebnisse konnten sich sehen lassen.
Da ich selbst Schulische Heilpädagogin in einer Sonderschule in der Schweiz bin, freute ich mich über das Angebot von Paty, Karen in die Sonderschule, welche von drei der Kinder besucht wird, begleiten zu dürfen. Auch hier findet seit März 2020 keine Schule im herkömmlichen Sinne statt. Die Lehrpersonen arbeiteten in ihren Schulzimmern und freuten sich über Besuch. Anders als in der Schweiz waren die Zimmer recht klein und die Anzahl der Schüler und Schülerinnen nach Aussagen von Karen und Paty bei ca. 20. In einer Primarschule oder Highschool liegt die Schülerzahl bei 40. Ich fragte mich, wie die Lehrerinnen den Kindern, besonders denen mit einer Beeinträchtigung, gerecht werden können, sie in ihrer Persönlichkeit fördern. Anders als in der Schweiz sind Kinder und auch Menschen mit einer Behinderung «Menschen ohne Rechte». Ihre Meinung wird in der Öffentlichkeit nur bedingt ernst genommen. Umso schöner ist es zu sehen, dass es im Kinderheim anders gelebt wird.
Meine Zeit geht nun zu Ende. Ich bin dankbar für die herzlichen Begegnungen, guten Gespräche mit und ohne App, die wertvollen Erfahrungen und die vielen Umarmungen. Muchas Gracias und ich freu mich auf ein baldiges Wiedersehen.
Annett